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Audio Technica AT 95 E - Der Billigheimer

 

Mit aktuell rund 50 Euro Kaufpreis gehören das klassische AUDIO TECHNICA AT95 E und die aktuelle Variante AT-VM 95 zu den preisgünstigen Tonabnehmersystemen am Markt. In den Plattenspielern ERA 444 und Garrard 301 haben wir die Probe aufs Exempel gemacht

 


Audio Technica AT 95 E im Kunststoff-Headhell des ERA 444, ein typischer 70er Jahre Mittelklasse-Plattenspieler aus Frankreich.

 

 

Wer die "Faszination Schallplatte" mit einen alten Dreher frisch erkunden möchte, der will das zunächst mit möglichst wenig Aufwand tun. Auch in finanzieller Hinsicht. Appetit und Feinschmeckertum reifen bekanntlich mit dem Genuss, und als Wiedereinstieg in die Vinyllust ist das genannte AT95E/AT-VM95 fraglos ein Fingerzeig in die richtige Verkaufsauslage.

 

Zumal der Einbau eines neuen Systems für Ungeübte nicht ganz ohne ist. Schnell ist Schrott produziert und somit Frust vorprogrammiert. Dieser winzige, insektenfühlerzarter Nadelträger ist ruck zuck abgebrochen. Das Sammeln grobmotorischer Erfahrungswerte gerät also mit einem Budget-Teil nicht gar so kostspielig wie bei einem teuren Edelsystem. Bei den günstigen Einstandskosten für das AT95E hat man im Vergleich zu einem "guten" System einen Fehlversuch frei, mindestens. Abgesehen davon haben wir es hier mit einem Produkt zu tun, bei dem der Preis sehr wenig über die tatsächliche Qualität aussagt. Im Gegenteil. Aber dazu später mehr.

 


Erkennungsfarbe Froschgrün. Dieses AT 95 stammt noch aus der vorletzten, in Japan hergestellten Serie. Die aktuellen VM-Modelle werden seit geraumer in China fabriziert und haben ein harmonischer gestaltetes Kunststoffgehäuse. Es gibt aber auch noch VM-Modelle mit "Made in Japan" Aufdruck. Wichtig: Bei den VM-Typen sind im Kunststoffkörper zwei Befestigungsgewinde eingelassen, damit gerät das Montieren in üblichen Langloch-Headshels wesentlich einfacher. Die aktuelle AT-VM 95-Serie gibt es mit diversen Nadelschliffen, von simpel rund, über Schellack-Nadel bis hoch zum feinen Shibata-Schliff. Upgraden ist also einfach durch Umstecken des Nadeleinschubs möglich. Und wichtig: Der alte Nadeleinschub passt in die neue Version - und umgekehrt.

 

 

Für die folgende Geschichte haben wir uns folgendes Szenario vorgestellt: Sie haben einen alten Plattenspieler geschenkt bekommen, gekauft oder im Keller wieder entdeckt. Häufig ist bei derartigen Gelegenheitsstücken die Abtastnadel verbogen, abgebrochen, abgenutzt oder aber es ist schlicht und ergreifend kein Abtastsystem mehr eingebaut.

 

Im Regelfall handelt es sich um ein durchschnittliches Plattenspielermodell aus den siebziger Jahren. Ein Dual, ein Elac, ein Philips, ein Telefunken oder ein Sony. Üblicherweise waren in diese Plattenspieler so genannte Moving Magnet-Tonabnehmersysteme (MM) eingebaut (siehe Rubrik "Tonabnehmer Wissen"). Meistens handelt es sich dabei um Systeme der Marken Ortofon oder Shure. Die MM-Systeme haben bauartbedingt den Vorteil, dass der Nadeleinschub austauschbar ist. Wenn die Nadel krumm oder defekt ist, lässt sie sich also einfach durch ein Neuteil ersetzen. Im Internetzeitalter wird man bei einschlägigen Vinylspezialisten selbst bei älteren oder exotischen Fabrikaten immer noch fündig. Oft handelt es sich dabei aber nicht mehr um originale Ersatzteile, sondern um Nachfertigungen.

 

Die Preise sind zudem nicht ohne, so dass man schnell vor der Entscheidung steht, gleich ein komplett neues System anzuschaffen. Angebot und Kostenrahmen sind weit gefächert, der Laie mit digitaler Fortschrittsbrille kommt ins Staunen. Die Spanne im Einzelhandel bewegt sich von einmal Mittagessen bis hinauf zu 10000 Euro (in Worten zehntausend!), etwa für ein Lyra Atlas. Artikel in HiFi-Magazinen tun ein übriges, um dem Interessierten unterschwellig das kostspielige Produkt als Normalität zu verkaufen. Schnell stellt sich so beim Fachpublikum die Vorstellung ein, unter 1000 Euro gäbe es heutzutage kein brauchbares Tonabnehmersystem.

 


AT 95-Generator. Winzige Spulen generieren die von den bewegten Magneten induzierte Spannung. Heraus kommt im besten Fall wunderbare Musik.

 

 

Überhaupt ist das AT95E ein Muster ebenso rationell durchgeführter wie hervorragender Feinwerktechnik. Alleine die am Ende des Nadelträgers im 90 Grad-Winkel aufgespreizt eingelassenen Mikromagnete lassen einen über die offensichtlich beim Herstellungsprozess zum Einsatz gekommenen Automationsverfahren staunen. Denn nur mit einem hohen Automationsgrad in der Fertigung lässt sich dieser verblüffend günstige Verkaufspreis realisieren.

 

Automation heißt zum einen hohe Fertigungskonstanz zum anderen aber auch Toleranz. Die offenbart sich an unserem Testmuster am Abtastdiamanten. Der ist weder aufwändig poliert noch sitzt er perfekt im Nadelträger. Von vorne betrachtet zeigt der Diamant unseres Test-AT95E in leichter Schieflage nach rechts. Diese Erfahrung spricht dafür, das System nicht per Internet zu ordern, sondern direkt im Fachhandel zu kaufen. Vor dem Bezahlen sollte man so frei sein, und den Nadelträger mit einer 15-fach-Lupe in Augenschein nehmen. Diese Vorgehensweise macht letztlich auch den Unterschied zwischen billig und teuer aus. In extrem nervenaufreibender Handarbeit erstellte "Edelsysteme" fordern einen hohen Anteil an Ausschuss und Selektion. Das erklärt - zum Teil - deren exorbitanten Preise.

 

Was beim AT95E auch noch erstaunt: das System war bis  kurz nach der Umstellung auf das neue Modell immer noch "Made in Japan". Den günstigen Preis erkennt man also nicht ohne weiteres an Konstruktion und Machart, schon eher an der Verpackung. Ein simples Plastikschächtelchen mit zerknautschtem Beipackzettel muss es tun. Immerhin liegen noch zwei Paar Leichtmetall-Befestigungsschrauben samt Muttern und Kunststoff-Unterlegscheiben sowie ein sehr praktikabel ausgeführter Nadelschutz bei. Die Schrauben sind allerdings in der seltenen M 2,6-Größe ausgeführt, passen also nicht mit allgemein üblichen M 2,5-Befestigungsteilen zusammen. So etwa bei unserer ERA-Systemaufnahme, die nur mit den hauseigenen Bundmuttern zu verwenden ist. Zwei M 2,5 x 10-Schrauben aus Edelstahl lösten das Problem, denn die serienmäßigen, magnetischen Schräubchen sollten nicht mehr zum Einsatz kommen.

 


AT 95-Nadelträger von vorne betrachtet. Gut sind die beiden im 90 Grad-Winkel angeordneten Magnetstäbchen zu erkennen. Ein typisches, patentiertes Merkmal aller Audio Technica-MM-Systeme.

 

 

Die Abmessungen des AT95E sind kundenfreundlich. Es unterscheidet sich in Bauhöhe und Gewicht nicht wesentlich von den gängigen Typen. Das ist vielleicht der wichtigste Tipp, den Sie beim Kauf eines neuen Systems beherzigen sollten: Wenn sich der Tonarm Ihres Spielers in der Höhe nicht einstellen lässt, dann achten Sie darauf, dass die Bauhöhe des ausgewählten Tonabnehmers möglichst dem des zu ersetzenden Systems entspricht. Dann ist ein wichtiges Kompatibilitätsproblem schonmal vom Tisch.

 

Womit wir bei der Kernfrage angelangt wären: Wie tönt das Ganze? Bei unserer Internet-Recherche zum Thema AT95E stießen wir in den einschlägigen Foren auf unterschiedlichste Kommentare. Das Spektrum reicht von "Schrott" bis "Super". Wie immer ist es in kontrovers geführten Debatten am besten, sich eine eigene Meinung zu bilden. Also wurde das System in direktem Vergleich über längere Zeit mit unterschiedlichsten Musikrichtungen und Platten in diversen Pressqualitäten angehört. Wie unsere Testanlage im Detail ausgesehen hat, erfahren Sie im Infokasten ganz unten. Der Kenner wird feststellen, dass wir dem Audio Technica eine schöne Spielwiese zum Austoben geboten haben.

 

Nach dem gefühlt zwanzigsten Durchlauf von Stevie Ray Vaughans "Tin Pan Alley" verneigen wir uns demutsvoll vor allen Journalisten-Kollegen, die mit HiFi-Tests und ständigem Vergleichshören ihr Brot verdienen müssen. Das ist kein Spaß. Dass überhaupt so viel im Vergleich gehört wurde, sagt im Grunde schon alles über das AT95E aus. Der Billigheimer offenbart sich dem Hörer akustisch nicht sofort als solcher. Bereits in der Warmlaufphase machen Audio Technica und ERA 444 aus dem unvermeidlichen "Köln Concert" von Keith Jarrett eine runde Sache. Das perlt, das atmet, das funkelt. Und der ERA zeigt, dass er mit Gleichlauf oder übermäßigem Nebengeräuschanteil keinerlei Probleme hat. Die Platte darf vergnügt die volle Länge durchlaufen, da kommt kein Wunsch nach entsetztem Abbruch der Vorführung und sofortigem Ohrenausspülen auf. Auch wenn Elvis sein grandiose "Fever" in Minimalbesetzung zum Allerbesten gibt, sitzt jeder Fingerschnipp und jeder Trommelwirbel. Allenfalls den Bass hat man schon würziger gehört. Aber nichts, das einem die Laune an diesem Elvis-Klassiker vermiesen könnte. Auch gegenüber der perkussiven Orff-Rhythmik in den "Catulli Carmina" behalten ERA und AT95E locker die Übersicht. Selbst die Chorstimmen bleiben klar und schmieren nicht zu. Kein Grund, den Tonarm vom Plattenteller zu nehmen.

 

Schwächen zeigen sich erst bei einer von Haus aus nicht ganz perfekten Pressung mit Auszügen aus Arrigo Boitos "Mefistofele". Im düsteren "L'altra notte in fondo al mare" zückt die sterbende Margherita, alias Renata Tebaldi, in ihrer Verzweiflung noch einmal alle stimmliche Schärfe. Hierbei hält das AT95E die Stimme nicht mehr sauber fest, da flackert das Lamento in unsteter Resonanz zwischen linkem und rechtem Kanal. Unüberhörbare Verzerrungen kommen hinzu. Das an gleicher Stelle zu Rate gezogene Van den Hul im Thorens 2001 zeigt dann, dass sich mehr Geldeinsatz doch auszahlt. Dynamik, Auflösung, Feinzeichnung und Herausschälen der einzelnen Instrumentestimmen wie mit dem Mikrotom, das alles macht das rund 50 Mal so teure Van den Hul auf einem hörbar weiter entwickelten Level.

 

Aber kein Grund zur Panik. Den schief montierten Diamanten haben wir bereits erwähnt. Also bekommt das AT95E eine zweite Chance. Diesmal im Garrard 301, der mit einem 12 Zoll-Derivat auf SME-Basis ausgestattet ist. Das Besondere dabei: Die rigide Resitex-Systemaufnahme kann feinfühlig am Armrohr gedreht werden. Somit lässt sich das Azimuth, also die lotgerechte Ausrichtung des Abtasters, bestmöglich justieren. Der schlichte ERA bietet diese Möglichkeit nicht. Hier müsste pfriemelig mit Unterlegen improvisiert werden.

 


Einmal den Gegenvergleich, bitteschön. Diesmal mit dem Garrad 301 und einem speziellen SME-Derivat als Tonarm, der die Einstellung der Azimuth sehr einfach macht. Und das bringt richtig viel.

 

 

Immerhin um drei Grad muss die Headshell gedreht werden, dann aber haben wir bei zwei Gramm Auflagekraft ein neues System. Das AT95E legt an Ruhe und Fundament zu, Tebaldis Sopran steht wie eine Eins und Elvis verpasst seinem "Fever" noch ein paar Grad Körpertemperatur mehr. Mit diesem Setup könnte getrost bis ans Ende aller Tage Vinyl konsumiert werden. Gut möglich also, dass die teilweise harsche Kritik am AT95 auf einer nicht perfekten Montage des offensichtlich toleranzbehafteten Systems beruht. Dass sich die intensive Auseinandersetzung mit dem "Billigteil" lohnt, zeigt unser Beispiel.

 

Unterm Strich also ein klarer Tipp, selbst für unseren Garrard-Spieler. Vom Preis nicht abschrecken lassen. Ausprobieren. Experimentieren. Feintunen. Das Ding ist grundsätzlich gut. Es muss aber wie ein "großes System" penibel justiert werden, ansonsten bleiben nur Zufallstreffer. Die große Enttäuschung könnte mit dem AT95E erst viel später kommen. Dann nämlich, wenn Sie aufrüsten möchten und sich ein zehnmal so teures Tonabnehmersystem in Ihren Plattenspieler einbauen. Gut möglich, dass Ihnen dann das billige AT95E noch besser gefällt. Und die neuen Modelle aus China? Das aktuelle AT-VM 95 E entspricht dem alten Japan-AT 95 E. Die Fertigung der China-ATs ist einwandfrei. Das chinesische Audio Technica-Werk produziert schon lange das AT-Einsteigersystem vom Typ AT 91.

 

 


AT 95-Nadelträger, der nach dem Raumnadelsystem-Prinzip mit zwei feinen Carbon-Streben zusätzlich abgestützt wurde. Keine Biegeverluste. Ein simples Tuning für den AT 95-Billigheimer, den man danach gar nicht mehr als Billigheimer erkennt.

Alte (links) und neue Version des AT 95, gekennzeichnet mit AT-VM, im Vergleich. Technisch sind die Generatoren und Nadelaufhängungen baugleich. Das Gehäusedesign wurde aufgefrischt, im VM-Kunststoffbody sind zudem Messing-Gewindehülsen zur einfachen Montage in Standard-Headshells eingelassen. Die gelb-orangene Farbe des Nadelträgers kennzeichnet die Version AT-VM 95 EN mit nacktem elliptisch geschliffenem Abtastdiamanten. Darüber hinaus gibt es noch das 95 C mit einfacher, gebondeter Rundnadel (circa 35 Euro), das 95 SP für Schellackplatten (circa 75 Euro), das 95 ML mit Microlineschliff (circa 180 Euro) und das 95 SH mit Shibata-Nadel (um 200 Euro). Im Handel sind noch immer AT 95 E im alten Design anzutreffen. Vor dem Kauf klären, ob es sich um NOS-Ware made in Japan handelt, oder Neuanfertigungen aus China. Es sollen auch Nachbauten aus China mit Audio Technica-Kennzeichnung im Umlauf sein.

 

 

Audio Technica AT95E/AT-VM 95 - Die Daten

 

Preis: aktuell ab circa 50 Euro, mit Shibata-Nadel circa 200 Euro

Hersteller: Audio Technica, Japan/China

Bautyp: MM (Moving Magnet)

Nadel: eliptisch gebondet (Std.), Nadelträger aus Leichtmetall, austauschbar

Frequenzgang: 20 bis 20000 Hz

Ausgangsspannung: 3,5 mV (bei 1000 Hz und 5cm/sec)

Kanaltrennung: besser als 20 dB (1000 Hz)

Kanalgleichheit: plus/minus 2 dB

Auflagekraft: 1,5 bis 2,5 Gramm

Anschlußwiderstand: 47 Kiloohm

Gewicht: 5,7 Gramm

Bauhöhe: 17,0 mm

 

FAZIT: Sehr preiswertes Abtastsystem, das Qualitäten zeigt, die weit über die gesetzten Erwartungen hinausreichen. Wächst mit der Sorgfalt, mit der es montiert und abgestimmt wird. Gilt besonders für die Versionen mit "edleren" Nadelschliffen (Shibata). Um Schallplatten dann signifikant besser zu hören, müssen schon alle Register in der Topklasse inklusive entsprechendem Anlagenumfeld aufgefahren werden. Nicht nur für Vinyl-Einsteiger ist das Standard-AT 95 E deshalb ein Bestkauf. Auf exakte Montage achten. Für die leichten Tonarme alter Dual-Dreher eher ungeeignet. Gut für mittelschwere bis schwere Arme. Anschlusskabel möglichst kurz oder mit geringer Kapazität wählen. Auch als Tuning-Objekt für Fortgeschrittene eine Empfehlung, siehe Raumnadelsystem.

 

 

 

Prüfsteine - die Komponenten der Testanlage

 

Das Audio Technica AT95E-System wurde im Umfeld dieser Komponenten geprüft.

 

Plattenspieler: Thorens 2001, Scheu Masselaufwerk mit Blei-Sand-Zarge, ERA 444, Garrard 301. Tonarme: Thorens TP 90, Thorens TP 16 Carbon-Spezial in 12 Zoll, SME Carbon-Spezial 12 Zoll, ERA Kreuzband, Einpunkt-Carbon 12 Zoll. Tonabnehmer: Denon DL 103R, Van den Hul DDT, Audio Technica AT20SLa. Vorverstärker: More Fidelity Classic, Bartolomeo Aloia Da Capo. Endverstärker: Bartolomeo Aloia Referenza, 300 B-Triode in Uchida-Schaltung, Altec Lansing 1594. Vollverstärker: Revox B 250-S. Lautsprecher: Thöress Duplex mit Jagusch-Weiche, Altec 604 in WvL-Gehäuse, Alesis Monitor One